Stellen wir uns vor, wir hätten die Aufgabe bekommen, für Deutschland 2024 ein ideales Gesundheitssystem zu entwerfen. Es erfüllt seine zentralen Versprechen und bietet einen gleichwertigen Zugang zu einer bedarfsgerechten Versorgung für alle mit gleich hoher Qualität. Es repariert nicht nur, sondern fördert und schützt Gesundheit und sorgt für mehr gesunde Jahre. Es achtet die planetaren Grenzen, verbraucht nicht mehr Ressourcen als notwendig und vermeidet unnötige Belastungen der Umwelt. Und es ist im Rahmen einer solidarischen Finanzierung langfristig bezahlbar und belastet niemanden über Gebühr. Und?
Das Gesundheitswesen, wie wir es heute in Deutschland haben, würden wir wahrscheinlich so nicht zu 100 Prozent entwerfen. Keine Frage: Wir haben das große Glück in einem Land mit einem hervorragenden Gesundheitssystem zu leben. Unsere Absicherung im Krankheitsfall ist sehr gut und gilt für alle. Wir haben sehr gute Versorgungsstrukturen, Zugang zu medizinischem Fortschritt und engagierte, kompetente Menschen, die in verschiedensten Berufen für unsere Gesundheit da sind. Aber bleibt das auch so? Bei einer Umfrage der Robert-Bosch-Stiftung 2023 gaben fast 60 Prozent der Deutschen an, wenig oder kein Vertrauen mehr in die Fähigkeit der Politik zu haben, für eine hochwertige und zugleich bezahlbare Gesundheitsversorgung zu sorgen. 2020 waren es noch 30 Prozent. Immer mehr Menschen erleben im Alltag, dass das System an seine Grenzen kommt. Und der Eindruck ist richtig, denn unser heutiges Gesundheitswesen ist nicht nachhaltig. Wir stehen aktuell vor nie dagewesenen Finanzlücken in Gesundheit und Pflege, immer drängenderem Personalmangel und einem Verbrauch von natürlichen Ressourcen, der in den letzten 30 Jahren um 80% gestiegen ist.
Woran liegt’s?
- Chronifizierungsdilemma: Wir leben länger. Mit Krankheiten, an denen man früher vorzeitig verstorben ist, kann man heute sehr alt werden. Wir leben aber damit auch mehr Jahre in Krankheit und die Alterung der Gesellschaft erreicht demnächst ihren Höhepunkt. Die Folge ist ein stetig steigender Bedarf an medizinischer Behandlung, der gedeckt werden muss.
- Nachhaltigkeitsdilemma: Das Finanzierungs- und Vergütungssystem im Gesundheitswesen belohnt wirtschaftliche getriebene, kurzfristige Entscheidungen. Es gibt beispielsweise keine langfristigen Anreize für Prävention und Gesundheitsförderung, Geld verdient wird stattdessen mit möglichst viel Behandlung.
- Steuerungsdilemma: Wir geben für unser Gesundheitssystem im Vergleich mit anderen Ländern Westeuropas sehr viel Geld aus und haben überdurchschnittlich viele Fachkräfte. Trotzdem erzielen wir nur unterdurchschnittliche Ergebnisse, wenn es darum geht, gesunde Jahre für unsere Bevölkerung zu schaffen. Und an ganz vielen Stellen erleben wir zunehmend echten Mangel. Denn es werden täglich wertvolle finanzielle, personelle und ökologische Ressourcen unnötig verbraucht, weil es an einer sinnvollen Steuerung fehlt.
Was müssen wir also tun?
- Bedarf an Gesundheitsdienstleitungen reduzieren: Eine politische Neuausrichtung des Gesundheitssystems muss Prävention und Gesundheitsförderung priorisieren, und einen besseren Umgang mit den großen chronischen Erkrankungen fördern.
- Angebot und Nachfrage von Gesundheitsdienstleistungen in Einklang bringen: Primärversorgung und Pflege müssen gestärkt, bedarfsgerechte Versorgungsangebote geschaffen und mehr Steuerung im System etabliert werden.
- Ökologische Wende im Gesundheitswesen verankern: Klimaschutz und Klimaanpassung müssen auch im Gesundheitssystem etabliert werden. Und zwar nicht am Rand, sondern direkt integriert in die großen Strukturreformen.
Im Moment wird das System der Größe der Herausforderungen, vor denen es steht, noch nicht gerecht. Aber sehr viele Akteure haben sich auf den Weg gemacht zu mehr Nachhaltigkeit. Am Anfang steht meist die neue Aufgabe, als Gesundheitsakteur zur ökologischen Wende beizutragen und die eigenen Strukturen klimaneutral und mit Blick auf die planetaren Grenzen zu verändern. Aber sobald man von Klimaschutz und -anpassung zur umfassenderen Idee von Nachhaltigkeit gekommen ist, bleibt es dabei nicht. Denn dann wird deutlich, dass das Gesundheitswesen nicht nur ein bisschen mehr „Öko“ braucht, sondern einen Paradigmenwechsel. Die Zeit könnte dafür geeigneter nicht sein.
Die gesellschaftliche Wirkung, die Akteur:innen des Gesundheitswesens erzielen können, geht über ihr eigenes System hinaus. Wir erleben gerade eine Phase von gesellschaftlicher Unsicherheit und Polarisierung, von wachsenden Widerständen gegen den Wandel. Und dass, wo wir eigentlich so dringend mehr Konsens über Lösungen gegen die Klimakrise und für mehr Nachhaltigkeit brauchen. Das Gesundheitswesen kann zu dieser gesellschaftlichen Debatte einen wichtigen Beitrag leisten. Mit ihrem Verständnis für die Zusammenhänge von Klima, Umwelt und Gesundheit und dem Konzept der Planetaren Gesundheit können Gesundheitsakteure ein mehrheitsfähiges Ziel für gesellschaftliche Veränderungen anbieten. Welche Änderungen im Ernährungssystem, im Energiesystem, im Verkehrssystem führen zu einem Mehr an Gesundheit der Menschen und schützen gleichzeitig den Planeten? Die Antworten liegen oft auf der Hand – und das Gesundheitswesen kann dafür einstehen und sich einmischen. Hier liegt, über die kooperative Gestaltung eines nachhaltigen Gesundheitssystems hinaus, ein weiteres wertvolles Feld für gemeinsames Handeln.